Das Sehen lernen oder: wie das traditionelle Training den Charakter formen kann
2007 by Daniel Beis
Vorbemerkung
Im Rahmen der Traditionell Chinesischen Kampfkunstausbildung werden immer wieder die moralischen und ethischen Dimensionen des Trainings hervorgehoben. Besonders im Bereich des Jugendtrainings werden diese Aspekte häufig für die persönliche Charakterbildung und zwischenmenschlichen Erziehung betont. Meiner Ansicht nach kann man diese Form der Charakterbildung nicht einfach in einem Tugendkatalog zusammenfassen oder in einem Codex moralischer Vorstellungen auflisten. Diese Darstellungen würden die eigentlichen charakterbildenden Prozessen nicht nur zu kurz fassen, sondern auch Großteils an jenen vorbei gehen.
Ich glaube, dass man in diesem Kontext weder von Kampfkunstmoral-, noch von –ethik sprechen sollte. Auch wenn die Wörter Moral (lat. mos, mores) und Ethik (gr. ēthikē) bloße Synonyme des Lateinischen und Griechischen sind, so bezeichnen sie im philosophischen Kontext andere Arbeitsbereiche und stellen bei näherer Betrachtung wahre „Begriffsmonster“ da.
Das Wort Moral (lat. moralis: die Sitte betreffend) sollte für Aspekte des Handelns reserviert bleiben, die durch sittliche Vorstellungen als moralisch gut oder schlecht ausgezeichnet werden können. Die 10 Gebote sind ein Beispiel für moralische, d.h. sittliche Vorgaben, die menschliches Handeln in geboten und verboten unterteilen und dem faktischen Tun als Richtlinien dienen können. Über die Rechtfertigung und Begründung dieser moralischen Regeln kann man aber immer noch trefflich streiten. Selbstverständlich findet das traditionelle Kampfkunsttraining auch vor einem kulturellen Hintergrund statt, dass bestimmte gesellschaftliche Umgangsnormen mitbringt. Die Umgangsformen sowohl des Lehrers, als auch der Schüler sind natürlich durch die moralischen Vorstellungen der jeweiligen Erziehung und gesellschaftlichen Form bestimmt. Diese variiert jedoch je nach Kulturkreis weniger oder mehr und soll daher nicht nicht im Fokus dieser Abhandlung stehen.
Wer sich über die unterschiedlichen Begründungen und Argumentationsstrukturen für moralische(d.h. kulturabhängige)Vorschriften Gedanken macht, der stellt sich ethische Fragen. Mit dem Begriff Ethik wird heutzutage zumeist eine philosophische Disziplin verstanden, die moralische Entscheidungen analysiert und die Rechtfertigungsansätze logisch hinterfragt und klassifiziert. Eine Kampfkunstethik würde demgemäß die unterschiedlichen Moralvorstellungen von chinesischen, japanischen, europäischen Kampfkünsten vergleichen und analysieren, was ebenfalls nicht zu dem gehört, was hier behandelt werden soll.
Um hier die Diskussion nicht auf gängige moralische und ethische Dimensionen auszudehnen, werde ich versuchen diese Bereiche Großteils auszusparen. Die folgenden Gedanken beziehen sich nur auf das de facto notwendige charakterliche Rüstzeug, dass man sich im Rahmen des traditionellen Trainings aneignen sollte.
Selbstverständnis und Menschenbild
Den Anfang und die Grundlage für eine Erläuterung der Charakterformung stellt hierbei ein Credo dar, dass man eigentlich in jeder traditionellen Kampfkunst auf der ganzen Welt erwarten und finden kann und das in etwa lautet: „Wir lernen Kampfkunst, um friedlich miteinander zu leben“.
Das klingt auf den ersten Blick paradox, ist es aber nicht wirklich. Denn dieses Credo basiert auf der Einsicht, dass ein Mensch alleine nicht als vollkommender Mensch leben kann. Der Mensch braucht den anderen Menschen (den Mitmenschen) um zu leben und die Kunst des Kämpfens kann verhindern, dass der Mensch den anderen leichtfertigt schadet.
In der Vergangenheit konnte man unter diesem Leitsatz jedoch vieles verstehen. Natürlich trainierten im antiken China Dorfbewohner Kungfu, um sich gegen Räuber und Banditen zur Wehr zu setzen. Das war dann weniger friedlich, eher martialisch. Es hatte aber das Ziel, den Frieden wieder herzustellen. Auf Staatseben wurden natürlich die Soldaten in den Kampfkünsten unterrichtet um sowohl im Verteidigungsfall, als auch in Offensiv kriegen, den Sieg davon zu tragen. Diese Form der Kampfkunstausbildung möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht einschließen, da es im Bereich der staatlichen Kriegskünste neben den speziellen Ansprüchen der Kampfkünste auch um politische, soziale und wirtschaftliche Normengeht und diese unterliegen anderen Maßstäben.
Heutzutage haben viele Kampfkunstanfänger sicherlich diverse Gründe mit dem Training anzufangen, z.B. Selbstverteidigung, Selbstbehauptung, Gesundheitsförderung, usw. Bis zu einem gewissen Grad werden diese Gründe auch ausreichen, um große Fortschritte zu machen, um Techniken zu verbessern und eine Kampfkunst zu verstehen. Unter einer/m guten Lehrer/Lehrerin, wird man jedoch schnell bemerken, dass man zwangsläufig mehr lernt (sogar lernen muss), als man ursprünglich gesucht hat. Ich würde sogar sagen, dass ab einer bestimmten Lernstufe es nicht mehr möglich ist Fortschritte zu machen, ohne besondere Fähigkeiten erworben zu haben, die über das rein Körperliche und Technische hinausgehen.
1. Blindheit
Ich möchte mit der Sehensform anfangen, die gerade nichts mit Sehen zu tun hat: dem Nicht-Sehen. Wie beim körperlichen Training, bei dem man zuerst das Stehen, dann erst das Laufen und später vielleicht das Sprinten, Springen, Treten neu lernen muss, so muss man auch das Sehen neu lernen. Nur sollte man bevor man damit anfängt reinen Tisch machen und aufhören immerzu überall hin zu schauen. Der erste Schritt beim Sehen lernen ist zuallererst, von Vielem abzusehen. Wer ernsthaft traditionell Chinesische Kampfkünste lernen möchte, der sollte aufhören sich mit anderen zu vergleichen, auf die Formen, Techniken und Fähigkeiten anderer zu schauen um sich immerzu mit diesen zu vergleichen. Man muss gewissermaßen blind werden für Störreize, ohne sich zu verschließen. Worum es hier geht ist die Fähigkeit erst einmal auf sich zu schauen, d.h. den Blick einzuschränken und zu fokussieren, damit man an sich arbeiten kann. Es wird immer jemanden geben, der schneller, stärker, technisch besser und erfahrener ist, als man selbst. Aber solange man Zeit darauf verschwendet nach neuen Herausforderungen zu suchen, neidisch oder gierig auf andere zu blicken, hat man weniger Zeit, sich an sich selbst zu verbessern. Sicherlich muss man auch über die Schulter schauen und seinen Horizont erweitern. Aber man sollte nicht zu fixiert versuchen andere zu imitieren, ihren Stil zu kopieren oder sich von deren Auftreten verunsichern zu lassen. Man sollte lernen, gezielt nicht zu sehen und sich dennoch sehend auf seine eigene Reise konzentrieren.
2. Nachsicht
3. Umsicht
Jeder gerät früher oder später an seine Grenzen. Entweder körperlich oder mental. Wer sich zu schnell über sein Limit hinausbewegt wird schnell feststellen, dass er nicht unendlich viel Einfluss auf sich selbst besitzt. Der Körper holt sich seine Pausen zurück und auch der Geist wird sich die Erholungszeit holen, die er benötigt. Wer seine eigenen Grenzen kennt, kann sich aber darauf einstellen und weiß, wie viel man leisten kann und darf. Wer diese Erfahrung an sich selbstgemacht hat, der kann diesen Umstand auch bei anderen nachvollziehen und ihnen helfen. Nicht der besser-wissende Mitschülern, der andere belehrt, ist hilfreich, sondern der umsichtige, der Hilfestellung anbietet und weiß, dass man nur selbst wissen kann, was für Hilfe man braucht. Und jeder wird früher oder später feststellen, dass er auf umsichtige Mitschüler angewiesen ist um Fortschritte zu machen. Dabei braucht man neben dem Lehrer nicht noch weitere Lehrer, sondern Trainingspartner, die mit Geduld und Umsicht zusammen trainieren. Man lernt den anderen zu respektieren und zu achten. Zu erkennen, welche Ansprüche, Bedürfnisse und Notwendigkeiten in einer Situation vorliegen, ist eine der Fähigkeiten, die gerade im Training Respekt und Mitmenschlichkeit erzeugen.
4. Rücksicht
In der traditionellen Kampfkunstausbildung trainiert man nicht nur Solo-Formen und vorgefertigte Partnerübungen, sondern übt im fortgeschrittenen Stadium auch relativ gefährliche Anwendungen. Im Gegensatz zu Kampfsportstilen können die Techniken hier auch direkt auf Gelenke und andere sensible Körperbereiche abzielen. Dass man hierbei besonders vorsichtig sein muss, versteht sich von selbst. Kleine Fehler, zu vorschnelle Aktionen und unkontrollierte Techniken können verheerende Folgen haben. Jeder der sich aufmerksam beobachtet weiß, dass die Konzentration immer nachlassen kann, dass aus Versehen eine Technik nicht richtig ausgeführt werden kann, und dass man unbeabsichtigt zu viel Kraft (oder zu wenig) beim Partnertraining aufwenden kann. In all diesen Situationen, wo man mit Trainingspartnern trainiert, muss man mit Rücksicht auf die eigene Fehlbarkeit und die des Partners zugehen. Wer sich hier emotional mitreißen lässt und sich von zu starken Kontrahenten anstacheln lässt, verliert seine Ruhe und Mitte. Rücksicht umfasst hier sowohl das tolerante und respektvolle zwischenmenschliche Umgehen, als auch ein ehrliches und höfliches Reagieren in Situationen, in denen man Schwächen beim Trainingspartner erkennt.
5. Vorsicht
Wer über Jahre und intensiv Kampfküste trainiert kennt diverse Techniken und Methoden um maximalen Schaden anzurichten. Und jeder, der solche Techniken beherrscht sollte auch ein Gefühl dafür entwickeln, wie schnell aus Unachtsamkeit und vorlautem Benehmen eine Handgreiflichkeit entstehen kann, in der aus Versehen schlimmste Folgen entstehen können. Können und Wissen bringen auch Verantwortung mit sich. Daher gilt es in allen Situationen eine Art der Aufmerksamkeit, Voraussicht und Vorsicht walten zu lassen, damit man schnell und gekonnt auf Geschehnisse angemessen reagieren kann. Für das eigene Verhalten bedingt das, dass man Zurückhaltung und Demut besitzen sollte. Nicht im Sinne von Unterwürfigkeit und Obrigkeitsgläubigkeit. Man sollte sich selbst nicht zu ernst nehmen, seine Wünsche und Begehrungen nicht zu fest halten und sich immer bewusst sein, wie schnell ein Streit, ein Problem, ein Wort zur Eskalation führen kann, die man selbst nicht mehr kontrollieren kann. Nichtsdestotrotz darf man sich aus seiner Verpflichtung nicht lösen sich einmischen zu müssen, wenn Leib und Leben bedroht sind. Wer aber Kampfkunst lebt und beherrscht, sollte den direkten Konflikt stets versuchen zu vermeiden.
6. Einsicht
Diese verschiedene Sehens-Typen deuten bereits den wesentlichsten Kern der charakterlichen Veränderung an, die sich im traditionellem Training vollziehen kann. Dieser Kern soll hier als Einsicht benannt werden. Im Endeffekt geht es um das Anfangs erwähnte Credo, dass das Ziel jeder Kampfkunst ist friedlich miteinander zu leben. Das ist die Kunst, die das traditionelle Training vom Kampfsport unterscheidet: es geht nicht darum besser als andere zu sein, weder im Ring, noch auf der Vorführungsplattform. Es geht darum sich selbst zu verbessern und ein besserer Mensch zu werden. Dazu gehört auch sich umfassend in anderen Bereichen zu informieren und sich schlichtweg zu bilden. Disziplin, Durchhaltekraft, Fleiß, usw. sind in den Kampfkünsten genauso vonnöten wie beim Kampfsport. Aber das Endziel ist nicht primär der Vergleich mit anderen. Das soll nicht heißen, dass ein Weg besser oder schlechter ist. Es soll nur den Unterschied zum sportlichen Anspruch hervorheben. In der traditionellen Kampfkunstausbildung geht es schlussendlich um die Einsicht, dass man das Gelernte so gut beherrscht, dass man sich willentlich dazu entscheiden kann, ob man es benutzt oder nicht.
Epilog
Es gibt natürlich immer wieder Fälle, in denen der Lernende nicht in der Lage ist, sich diese Trainingsaspekte anzueignen. Zum Beispiel ist der Lernende vielleicht nicht bereit sich für diese Aspekte zu öffnen und verschließt sich unbewusst sogar vor ihnen. Besonders wenn man von sich selbst zu eingenommen ist, sich nur auf sich selbst konzentriert und das miteinander Trainieren als Selbstverständlichkeit ansieht, kann man diese Aspekte verpassen. Ein guter Lehrender sollte daher darauf achten, seinen Schülern immer wieder die Möglichkeit zu geben, sich zu öffnen und das, was neben den Techniken unterrichtet wird, zu sehen. Allerdings kann kein Lehrender seinen Schülern diese Fähigkeiten aufzwingen. Die Bereitschaft der Lernenden muss von jenen selbst, aus ihnen heraus kommen. Der Lehrer kann nur das Umfeld so gestalten, dass es immer Möglichkeiten gibt diese Chancen zu sehen und zu nutzen. Die hier angesprochenen Fähigkeiten sind gerade keine moralische Tugenden, die man in Form von Schultugenden oder als Kampfkunstkodex auswendig lernen muss. Es geht gerade nicht darum, dass der Lehrende von seinen Schülern verlangt, bestimmte sittliche (und somit kulturell geprägte) Normen aufzusagen oder im Training bestimmte (philosophische/ religiöse) Tugendlehren herunterzubeten. Das bloße Rezitieren von Handlungsnormen macht noch keine gute Tat aus. Und eine Kampfkunst ist zwar kulturhistorischen Einflüssen ausgesetzt; eine Kampfkunst ist aber genauso viel oder wenig religiös wie ein Schwert oder ein Gewehr; die Menschen sind es, aber die Kunst höchstens mittelbar. Es geht hier vielmehr darum sich bestimmte Sehensweisen auf seine Umwelt zur Gewohnheit zu machen. Ab einem gewissen Stadium benötigt man diese Gewohnheiten im Training, aber wenn man sie einmal internalisiert hat, werden sie automatisch auch in alle anderen Lebensbereiche mitgenommen. Wer das Sehen-lernen aufgenommen hat, der wird stets umsichtigen Handeln und kann dies beim Trainingsende nicht einfach abschalten. Dadurch kann der Charakter gebildet werden ohne direkt unterrichtet zu werden.